CDU Wustermark

Ingo Senftleben: „Die Politik ist im Ausnahmezustand, nicht Deutschland“

Namensbeitrag von Ingo Senftleben in „Der Tagesspiegel“ vom 5.7.2018.


Wer den Glauben an Politik verloren hat, dem kann man keinen Vorwurf machen. Fassungslos mussten die Bürger in den letzten Tagen und Wochen mit ansehen, wie Koalitionspartner einander zu Gegnern erklärten und sich mit Ultimaten bedrohten – auf Kosten der Stabilität des Landes. Denn das Gefährliche an diesem Streit in der Regierung war, dass er eine Krise inszenierte, die es im Grunde gar nicht gibt: Die Zahl der irregulären Grenzübertritte an der bayerisch-österreichischen Grenze ist so niedrig wie seit Jahren nicht mehr. Die Politik ist im Ausnahmezustand, Deutschland ist es nicht.

Viele hat das Gefühl beschlichen, dass es bei diesem Streit weniger um die Sache geht als darum, alte Rechnungen zu begleichen. Besonders stört es die Menschen, wenn der Eindruck entsteht, Politik ist nicht mehr als eine Inszenierung zum eigenen Vorteil, aber auf Kosten der Vernunft.

Der Streit zwischen CSU und CDU hat die Bürger fassungslos gemacht

Es stimmt, dass viele Probleme im Zusammenhang mit Migration nicht schnell genug und ehrlich genug benannt wurden. Das hat der Debattenkultur in unserem Land geschadet, und dabei ist viel Vertrauen verloren gegangen. Aber Vertrauen gewinnt man nicht zurück, indem man Politik an gefühlten Problemen ausrichtet. Oft lenkt solche Symbolpolitik nur von den eigentlichen Problemen ab: die Schwierigkeiten, mit denen Familien jeden Tag zu kämpfen haben, die schlechte Ausstattung unserer Schulen, die Herausforderungen, vor denen unsere Wirtschaft angesichts von Digitalisierung und globalem Wettbewerb steht.

Aber es soll nichts beschwichtigt werden. Natürlich gibt es auch in der Asylpolitik ungelöste Probleme, die zu Recht viele Menschen frustrieren: Flüchtlinge, die sich der Integration verweigern; Abschiebungen, die nicht vollzogen werden; Drittstaaten, die nicht kooperieren. Aber keines dieser Probleme lässt sich an der bayerisch-österreichischen Grenze lösen.

Der Ton in der politischen Debatte ist rauer geworden. Im Internet, auf Demonstrationen und mittlerweile auch in deutschen Parlamenten wird gehetzt, Angst geschürt und Panik verbreitet. Die Unionsparteien sollten nicht versuchen, die schrillen Töne noch zu übertreffen. Sie sollten sich eher darauf besinnen, was sie als bürgerliche Parteien von radikalen Parteien unterscheidet: eine gute Streitkultur. Gut streiten heißt nicht, auf Widerspruch zu verzichten. Aber gut streiten setzt voraus, dass man vernünftig miteinander umgeht.

Die Union darf den schrillen Ton radikaler Parteien nicht kopieren

Viel über den vernünftigen Umgang miteinander habe ich als Brückenbauer gelernt, als der ich vor meiner Zeit als Politiker jahrelang gearbeitet habe. Was ich damals gelernt habe, dient mir noch heute als innerer Kompass. Auch auf dem Bau gab es immer wieder Schreihälse, denen es nicht schnell genug ging. Durchgesetzt haben sich aber am Ende nur die, die Probleme lösen, statt über sie zu schimpfen. Und vor allem hat sich immer wieder gezeigt: Die Brücke hält nur, wenn es auch im Team Zusammenhalt gibt.

Die Union von CDU und CSU war immer auch ein Projekt des Brückenbaus, nicht nur zwischen zwei Parteien, sondern zwischen unterschiedlichen Milieus: zwischen Katholiken und Protestanten, Liberalen und Nationalkonservativen, Stadt und Land. Aber auch zwischen unterschiedlichen Politikstilen: einem volkstümlichen Politikstil, der auf den Tisch haut, und einem weltläufigen Stil, der zwischen europäischen und nationalen Interessen vermittelt. 

Dieser Brückenbau war nur möglich, weil jeder gleichberechtigt zu Wort kam und dennoch alle an einem Strang zogen. Es ist höchste Zeit, sich wieder auf diese Stärke zu besinnen. Es ist höchste Zeit, wieder Brücken zu bauen, damit die Bürger der Politik Glauben schenken.